Zwischen Himmel und Hölle - Eindrücke vom Vulkan Villarrica und der "Colonia Dignidad"

226. - 235. Reisetag (26.02. - 06.03.2016)

Wir übernachten vor der Rangerstation des NP Villarrica. Der morgendliche Himmel erscheint klar, es steht dem Aufstieg nichts im Wege.  Wir sind rechtzeitig vor den ersten Touristenführern ‪um 7 Uhr am Büro. Es werden Notfallnummern ausgetauscht, unsere Genehmigung und unsere Ausrüstung gecheckt. Die Touriführer kommen ebenfalls und tragen sich und ihre Gruppen in ein Buch ein. Schnell fahren wir zum Parkplatz hoch und gehen zum Startpunkt des Lifts, der uns die ersten 400 Höhenmeter erspart. Uwe kämpft mit seiner Ehre, ich bin mir aber ganz sicher, dass ich den Lift nehmen möchte. Mir ist das Ankommen am Krater wichtiger als die Tatsache 1450m in die Höhe gekraxelt zu sein. Der Sessellift hat keine Fußstützen und keinen Sicherheitsbügel, fährt gemütlich nach oben, wo zwei Herren einem schnell raus helfen und einen aus der Fahrtrichtung ziehen. Weitere Ranger gucken sich die Steigeisen und weitere Ausrüstungsgegenstände an und geben uns noch kurze Anweisungen, die Strecke der „Guias“ zu nehmen und nur 5 Minuten lang am Krater stehen zu bleiben.

Los geht es! Wir sind mit die ersten. Nur kleine Gruppen sind vor uns, von denen wir einige im Laufe der Zeit überholen. Der Weg ist gut zu bewältigen, langsam aber kontinuierlich geht es bergauf. Nach gefühlten 300 Höhenmetern heißt es die Steigeisen anzuziehen und ein ewig hoch erscheinendes Schneefeld mit angefrorenem Schnee in Serpentinen hoch zu steigen. Der Blick ins Tal ist teilweise durch weiße, dünne Wolken verdeckt. Es sieht alles traumhaft schön aus. Endlich haben wir das Schneefeld, das zum Schluss ziemlich steil wird, hinter uns und müssen die letzten 200 Höhenmeter über Vulkangestein nach oben. Als ich in meiner Nase und an den Augen ein unangenehmes Brennen spüre, weiß ich, dass es geschafft ist. Nun sind es nur noch wenige Meter bis zum Krater. Wir sind Nummer 4 und 5 an diesem Morgen. Es rumpelt und zischt unter uns. Im Magen macht sich leichtes Unbehagen breit. Alle starren in den Krater, wo sich immer wieder Dampfwölkchen bilden und je nach Windrichtung in unsere Nase steigen. Plötzlich flammt es auf, ein glühender Lavastrom schießt nach oben, bleibt aber glücklicherweise weit unter uns. Welch ein grandioser Anblick! Ich kann mir jetzt gut vorstellen, wie es ist, wenn der Vulkan ausbricht. Dann möchte ich bitte woanders sein. Nun sind die Gasmasken wirklich hilfreich. Vor die Nase gepresst, erleichtern sie das Atmen sehr. Nach ungefähr einer halben Stunde kommen weitere Wanderer oben an. Sie bleiben tatsächlich nur 5 Minuten, um den Nachfolgenden Platz zu machen. Wir sehen in den ersten 20 Minuten (wir sind natürlich viel länger als 20 Minuten Kraterrand geblieben ;-)) 4 Lavaausbrüche! Die nach uns kommenden haben Pech und sehen keinen Einzigen – wie heißt es so schön „früher Vogel fängt den Wurm“. Es hat sich also doppelt gelohnt, so pünktlich zu sein. Wir haben Glück mit der Lava und haben niemandem die Sicht versperrt.

Der Rückweg ist zu Beginn etwas nervig, da sich die auf- und absteigenden Leute gegenseitig im Weg sind. Schnell erreichen wir ein anderes Schneefeld und schließen uns einer größeren Gruppe an. Nacheinander setzt man sich in eine vorgeformte Schneerinne und rutscht auf dem Po, der durch wasserdichte Hosen geschützt ist, wie auf einer Wasserrutsche den Berg runter. Als Bremse dient die Eisaxt. Anfangs fühle ich mich etwas unsicher, bekomme aber bald heraus, dass die Rinnen so gestaltet sind, dass man nicht zu schnell wird und man die Geschwindigkeit auch gut beeinflussen kann. Es gibt mehrere Stopps, an denen man ein paar Meter läuft, um in der nächsten Rinne auf dem Plastikrutscher weiter zu fahren. Je nachdem, wie steil das Gelände ist, lautet die Anweisung mit oder ohne „plastico“. Wir kommen tatsächlich bis zu der Liftstation herunter, ohne uns besonders anzustrengen. Anschließend geht es mit nassen Hosen durch weiches Vulkangestein weiter bergab. Wie man das bewältigt, habe ich ja auf unserer letzten Wanderung gelernt, so dass ich diesen Berg tatsächlich ohne Kniebeschwerden verlasse. Wirklich einmalig!


Am nächsten Tag fahren wir weiter. Wir wollen über Temuco ans Meer, um dort Libellen zu fotografieren, die wir bei einer Reisenden auf dem Laptop gesehen haben. In Temuco, einer sehr lebendigen Großstadt, suchen wir den historischen Markt auf und gehen seit langem mal wieder Essen. Wie schon so oft, sind wir vom Essen enttäuscht. Wir schlendern noch durch die Stadt, besichtigen das Museo regional, das sehr liebevoll gestaltet ist, und fahren dann weiter. Da es sich schwierig gestaltet, einen Schlafplatz zu finden, landen wir 280km weiter nördlich in der Nähe der Laja Wasserfälle. Im Dunkeln stellen wir uns auf einen ruhigen iOverlanderplatz vor einer Schule und gehen schnell schlafen.

Am nächsten Morgen besichtigen wir die Wasserfälle, die schon sehr ausgetrocknet sind. Da wir feststellen, dass wir uns gar nicht so weit von der „Colonia Dignidad“ befinden, beschließen wir, dorthin zu fahren.

Uwe war vor 22 Jahren schon einmal dort und stand damals vor verschlossener Tür. Bewaffnete Wächter und Überwachungskameras haben ihn vertrieben. Wie wird es heute sein, wo die Machenschaften des Paul Schäfers aufgedeckt und beendet worden sind?

Was hat es mit der Colonia Dignidad auf sich? 

Wir bleiben 3 Tage, u.a. weil Uwe einen Magen- Darmvirus ausbrütet. So haben wir viel Zeit zu lesen und darüber nachzudenken, was und wie wir uns hier in diesem Blog äußern. So richtig weiß ich es aber immer noch nicht.

Die meisten von euch werden von dieser Colonia, die im Jahre 1961 von dem Laienprediger Paul Schäfer gegründet wurde, schon gehört haben. Seit dem 18. Februar läuft der Film „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ in den deutschen Kinos. Mit Sicherheit sehr spannend, wenngleich diese Liebesgeschichte nach Aussagen ehemaliger Bewohner so nie möglich gewesen wäre. Paul Schäfer hatte in Süddeutschland bereits mehrere Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs an Jungen laufen, als er mit seiner 200 Mitglieder starken Anhängerschaft in ein Gebiet 400km südlich von Santiago de Chile auswanderte und dort eine stark religiös geprägte Gemeinschaft aufbaute, die sehr abgeschieden lebte und in der Zeit Pinochets mit diesem kooperierte. Es wird der Colonie nachgesagt, dass auf dem Gelände nicht nur gefoltert, sondern auch gemordet  wurde. 

Nach der Diktatur wurde auch die Colonia mehr in den Blick genommen. Schäfer verschwand, tauchte unter (1996), wurde 2005 in Argentinien gefasst und letztendlich zu 33 Jahren Haft verurteilt. 2010 ist er im Gefängnis in Santiago gestorben. Nur langsam gelang es den Menschen der Gemeinschaft sich zu öffnen und frei und selbstbestimmt ihr Leben zu gestalten. 

Was hat uns an diesem Besuch so bewegt? Wir kommen am Empfang an und Anette begrüßt uns, fragt, was wir möchten. Wir kommen ins Gespräch. Sie erzählt uns einige Episoden aus ihrem Leben, so dass wir immer mehr fragen und dabei gar nicht bemerken, wie uns die Sonne auf den Kopf scheint. 

Sie ist 1974 mit 16 Jahren von ihrer Mutter aus Deutschland hierher geschickt worden. Ihre Eltern haben sich über der Auseinandersetzung, ob Paul Schäfer gut für die Familie ist, so zerstritten, dass sie sich getrennt haben. Anette erlebt, dass sie von nun an kein persönliches Wort mehr mit jemandem wechseln darf. Der einzige, dem sie vertrauen darf, ist Paul Schäfer. Er begründet jede seine Anweisungen und Erwartungen mit Bibelzitaten, die nicht in Frage gestellt werden dürfen. Jungen, Mädchen, Frauen und Männer leben alle getrennt voneinander. Das Leben ist bestimmt durch Arbeit und gemeinsames Beten. Kritische Fragen, eigene Ideen, Fröhlichkeit oder Spaß gibt es nicht. Zwar gibt es für die Kinder eine Schule, aber die Arbeit geht immer vor. Der allnächtliche Missbrauch der Jungen ist wohl allen bekannt, aber man spricht nicht darüber. Viele junge Leute zerbrechen daran. Fluchtversuche, die in der Regel scheitern, werden mit harten Schlägen, Elektroschocks, Psychopharmaka und Ablehnung durch die Gruppe streng bestraft. Da sogar die deutsche Botschaft mit Schäfer kooperiert, gelingt es kaum einem, die Gruppe zu verlassen.

Als die vielen Schandtaten auffliegen, verliert die Gemeinschaft ihren Halt. Die älteren, die sich einmal dafür entschieden haben, so zu leben, haben für ihre Arbeit keinen Lohn erhalten und auch die Rücklagen fürs Alter sind minimal. Sowohl Chile als auch Deutschland weigern sich, den Menschen eine Rente zu zahlen. Sie stehen vor dem Nichts und viele sind ohne das Gerüst der Gemeinschaft auch psychisch annähernd lebensunfähig. Den Jüngeren ergeht es nicht viel besser. Auch sie haben noch nie mit Geld hantiert oder entschieden, wo sie hingehen wollen. Dennoch verlassen zwei Drittel der Leute den Ort, während die anderen versuchen, aus den Werkstätten, der Landwirtschaft und den anderen Gebäuden etwas Sinnvolles zu gestalten. Es wird ein Tourismus entwickelt, auf Grund dessen wir ja auch da sind. Es gibt ein Hotel, gepflegte Garten- und Schwimmanlagen, ein Freizeitangebot und ein Restaurant mit deutschem Essen.


Alles wirkt so entspannt und friedlich, dass es unsere Vorstellungskraft übersteigt, an einem Ort mit so menschenverachtender Vergangenheit zu sein. Wir unterhalten uns auch noch lange mit Reinhard, Anettes Mann. Er kam mit 5 Jahren hierher, seine 8 Geschwister ebenfalls. Zwar wusste er, wer sie sind, durfte aber gerade mit den Schwestern gar keinen Kontakt halten. Er spricht immer wieder von dem Gewissen, das Schäfer in seine Brust gesetzt hat. Als Pilot konnte er die Colonia sogar verlassen, hatte aber immer Angst, von den feindlichen Menschen der Welt angesprochen zu werden. Er wusste auch nie, weshalb er wohin fliegen musste, traute sich auch nicht zu fragen. Diese Aussage hat ihm das chilenische Gericht jedoch nicht geglaubt und ihn im Zusammenhang mit einer Kindesentführung in allen drei Instanzen verurteilt. Die zur Bewährung ausgesetzte Strafe ist jetzt endlich verbüßt und er ist wirklich ein freier Mann. Als die beiden mit über 40 Jahren endlich heiraten durften, lebten sie schon in Santiago, hatten sich selbstständig gemacht und vieles ihrer Vergangenheit bewältigt. Dennoch kamen sie 2012, in einer wirtschaftlichen Krise der Gemeinschaft, zurück, vor allem um Anettes Mutter beizustehen. Reinhard arbeitet seitdem im Direktorium mit und versucht, für die Menschen, die noch hier sind, eine wirtschaftliche Grundlage zu erhalten.

Wir fragen uns immer wieder, wie die Menschen hier zurecht kommen. Alles an das sie geglaubt haben, ist zerbrochen. Vieles ihrer Vergangenheit ist schrecklich. Insbesondere die älteren halten an alten Glaubenssätzen fest, stellen sich häufig der Vergangenheit nur bruchstückhaft. Deutlich wird dies an einer Hauswand, an der die Geschichte der Villa Baviera dargestellt wird. Dort werden die Jahre von 1961 bis 1997 als „schwierig“ dargestellt. Nirgends findet man Hinweise auf das Auseinanderreißen der Familien, des totalen Sexualitätsverbots, des Heiratsverbots, des Sprechverbots untereinander und mit Fremden, des Missbrauchs, der Folterungen der Kinder und der chilenischen Leute, die Pinochets Chargen dorthin gebracht haben. Sicher gab es noch viel mehr grausame Dinge, die wir gar nicht erfasst haben. Trotzdem müssen die Menschen weiter leben und sie tun es, so gut sie können.

Uns hat dieser Besuch sehr beeindruckt, aber auch verwirrt und uns immer noch mit vielen Fragen allein gelassen.

Als Uwe wieder Energie getankt hat, fahren wir viele Kilometer gen Norden. Autobahn mit Wegezoll - aber Asphalt! Wie immer an solchen Fahrtagen werde ich sehr müde und mein Kreislauf fährt runter. Die ganze Zeit über haben wir bei blauem Himmel strahlenden Sonnenschein und 27 Grad. Kurz vor dem Pazifik sinkt die Temperatur in kurzer Zeit auf 16 Grad und alles ist zugezogen. Wie schade! In Constitucion schlagen die Wellen heftig an den schwarzen Strand. Die spektakulären Felsen erheben sich an der Küstenstraße in hellgrau und die Möwen und Pelikane machen tüchtig Krach. Ein eindrucksvoller Anblick, den wir nicht so sehr lange genießen, da wir noch an die Laguna Torca wollen.

Wir fahren die Küstenstraße hoch. Trotz abklingender Saison sind noch viele Touristen unterwegs. Wir kaufen frischen Fisch und fahren hinter Lipimavida eine gut ausgebaute Schotterstraße bis zum See Vichuquen. Zu unserer Überraschung ist es hier nicht einsam und verlassen, sondern recht belebt und bebaut. Der Pfad über die Laguna Torca motiviert uns nicht gerade, obwohl dort einige Libellen herumschwirren, sind wir erstmal enttäuscht. So verbringen wir die Nacht am Ende der Straße an der Pazifikküste und setzen uns an unseren Block.

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